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Eine Gewalt, die abwärts stürzt und alles frisst

LESEPROBE / PROSSER / VERSCHWINDEN IN LAWINEN

03/10/23 Schon der Großvater war einst in den Bergen verschwunden. Eine diffuse Schuld trägt Xaver seither mit sich herum. Nun macht er sich in der Gegenwart mit auf die Suche nach einem Lawinienopfer – in der Hoffung den Verschütteten, sich selbst, seinen Platz im Leben und vielleicht sein Glück zu finden. – Hier eine Leseprobe.

Von Robert Prosser

Wenige Stunden waren seit der Lawine vergangen. Am Himmel kreiste ein Reiher, in flachen Strahlen fiel die Abendsonne durch Wolkenfetzen. Wind brachte Bewegung ins Tal: Schneewirbel, flirrendes Licht. Xaver wählte die Abkürzung über das Feld, machte kleine Sprünge. Wachsame Blicke, zwanzig Prozent Vogel. Laut dem Buch, das er gerade las, zählte zu den grundlegenden Übungen der Schauspielkunst, ein Tier mit der eigenen Persönlichkeit zu mischen, fünfzig Prozent, sechzig, derart gewöhne man sich die für eine Rolle nötige Achtsamkeit an. Der Reiher, eben durch die Luft gekreist, hüpfte nun einen Feldpfad entlang. Vielleicht half es, sich für die bevorstehende Messe als ein Tier zu imaginieren, das meist alleine blieb, still am Bach ausharrte; ein gleichmütiger Räuber.

Das anfängliche Gerücht – oder vielmehr war es eine Beobachtung gewesen, ein Rettungshubschrauber zwischen zwei Gipfeln, das Rattern aus der Ferne kaum hörbar – hatte sich rasch bestätigt: An einer abgeschiedenen Flanke des Greits, dieses höchsten Berges, seien zwei Schifahrer verschüttet worden, Jugendliche aus dem Ort, und schließlich erreichte Xaver, der an diesem Tag an der Gondelstation arbeitete, die Nachricht, dass es sich um seine Nichte und deren Freund handle. Wie konnte man im freien Gelände nur so leichtsinnig sein, dachte er in hilflosem Ärger und ließ das Springen bleiben. Aber, sagte er sich dann, knapp vor Frühlingsbeginn, eine der letzten Gelegenheiten, die Spur in einen Hang zu ziehen … Von der Terrasse des Hotel Tyrol reckte ein Mann neugierig den Kopf zur Kirche, fotografierte die am Vorplatz versammelten Menschen. Hier der Tourist, der ahnte, dass sich etwas Besonderes zutrug, dort die Einheimischen, die so taten, als gäbe es den Beobachter nicht. Xaver querte die Straße, trat in die Menge. Das gesamte Dorf schien sich eingefunden zu haben, er sah vertraute Gesichter und solche, die ihm höchstens vage bekannt waren. Zwölf Prozent, fünf, wie gebärdete sich bloß ein Reiher? Krächzte er, schnatterte, war das überhaupt ein Einzelgänger? Würde er grüßend mit dem Schopf rucken? Nein, einen fernen Punkt anvisieren. Xaver schüttelte das Mantelgefieder, glaubte sich dabei von Kopf bis Fuß gemustert: Grübchen im Kinn, fuchsigbraune Haare, ist das nicht der … Da tönte die Turmglocke; die Gespräche wurden ein Wispern.

Xaver hatte sich vom Dienst abgemeldet und war in das Krankenhaus der nächstgelegenen Stadt gefahren. Bleich und schmal, ausgebrannt zu einem flüchtigen Rest, hatte ihn seine Schwester erwartet, in ihren Augen etwas Fremdes, Neuartiges. Angst, begriff er. Danke, dass du kommst, sagte Marlen, doch dürfe kein Besuch auf die Station. Sie sprach von einer gequetschten Lunge und Schädeltrauma, dem Halswirbel. Er umarmte sie, ihr Flüstern im Ohr, sie drehe fast durch, die Tochter auf der Intensiv und der Bub noch vermisst. Das wird, hatte er gesagt, wird sicher alles gut. Was für idiotische Phrasen.
Stehen, knien, sitzen. Aus allen Mündern: Amen. In der ersten Reihe hockten die Eltern des Jungen. Das Murmeln im Rücken, das Rascheln der Kleidung, bewies ihnen die vereinte Unterstützung. Zur Kommunion bildeten sich zwei Reihen, eine vor dem Pfarrer, eine vor dem Diakon. Am Weg zurück wurde Xaver wieder von links wie rechts betrachtet. Er blickte zu Boden, löste mit der Zunge die Hostie vom Gaumen. Er dachte an die Lawine.

Mit freundlicher Genehmigung des Jung und Jung Verlages

Robert Prosser: Verschwinden in Lawinen. Roman. Jung und Jung Verlag, Salzburg 2023. 192 Seiten 22 Euro, auch als E-Book erhältlich – jungundjung.at
Bild: Jung und Jung / Günter Mik

 

 

 

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