Das also ist die Crux der Zeitgeschichte als historische Disziplin: Sie ist so nahe dran am jeweils zu erforschenden Objekt, dass eine wirklich stichhaltige Wertung (noch) nicht drin ist. Zeitgeschichtler müssen in Kauf nehmen, dass ihre Arbeit weggefegt wird vom Sturm neuer Sichtweisen, die ihrerseits von „Moden“ und vom Zeitgeist eingefärbt sind.
Hier wird der Fokus auf die Regierungsjahre der Landeshauptleute Hans Katschthaler und Franz Schausberger gerichtet, also auf die Jahre 1989 bis 2004. Wie und in welche Richtungen hat sich da das Mikroklima in Salzburg verändert? Wie hat sich die Region in der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Großwetterlage behaupten können?
Es waren sehr unterschiedliche Köpfe, die die Geschicke des Landes lenkten: Katschthaler hat man die Zögerlichkeit als Wappen-Emblem zugeschrieben. Schausberger hingegen hat sich stets forsch als „Macher“ profiliert. In Kulturbelangen hat man Katschthaler vorgeworfen, dass er die Sache mit dem Guggenheim-Museum „im Berg“ aus purer Vorsicht gründlich vergeigt hat. Jetzt steht dafür ein Ding „auf dem Berg“, für das der Volksmund seinerzeit das Wort „Schausberger-Schachtel“ prägte. Aber Architektur und Volksmund, das ist ohnedies so eine Sache: Mit großer Ausführlichkeit werden in diesem Buch die größeren und kleineren Querelen rund um neues Bauen aufgearbeitet: die langwierigen und gelegentlich verschlungenen Wege zum Salzburg Museum in der Neuen Residenz, zum Mönchsbergmuseum, zum Haus für Mozart und zum Fußballstadion in Kleßheim. Sich an einem Architekturwettbewerb in Salzburg zu beteiligen, galt unter Insidern bald als Harakiri-Unternehmen sondergleichen. Gebaut wurde nicht selten das, was von den Juroren eher als zweite oder dritte Wahl eingestuft worden ist.
Ein Buch wie dieses, in dem es um möglichst sachliche und detailreiche Analysen geht, ist die Balance zwischen „objektiver“ Sichtweise und einer noch nicht verblassten Erinnerung, die ja immer auch auf persönlichen Einschätzungen und Standpunkten fußt, eine beständige Gratwanderung. Blicke in die Statistik sind da allemal lehrreich. Heutzutage wird die Wirtschaft schon bei einem Nullwachstum hysterisch. Es ist instruktiv, der Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Es gab in der Ära Katschthaler Jahre, in denen der Sommertourismus gleich um ein Viertel eingebrochen ist. Das statistische Auf und Ab in der Wirtschaft, der Agrarpolitik (da sind Rückgänge der Langzeit-Normalfall), in der Gesundheitsversorgung, in Energie-, Klimaschutz- und Umweltpolitik, in der Gemeindeentwicklung und natürlich auch in der Entwicklung der politischen Parteien: All das ist hier umfänglich aufgeschlüsselt.
Dass eine eigentlich selbstverständliche Sache, nämlich Steuergeld bestmöglich anzulegen, in diesen Wochen als vermaledeites Spekulieren einer vermeintlich jeder Kontrolle entglittenen politischen Kaste dargestellt wird, hätten sich die damaligen Politiker ebenso wenig erträumt wie die Autoren der Wirtschaftsbeiträge noch vor zwei Monaten. Ist das Buch also schon bei Drucklegung hoffnungslos unaktuell? Geht man nach der Vox populi, müsste man das so sehen.
Erfreulich: Gut ein Drittel der fast neunhundert Seiten gilt der Kultur. Das Bauen hat dabei ein Übergewicht. Aber Haus für Mozart oder Mönchsbergmuseum sind halt handfestere und repräsentativere Dinge als dezentrale Kulturzentren, die sich in fraglicher Zeit enorm entwickelt haben. Manche, wie das Schauspielhaus, sind als Folge raschen Wachstums auch ernsthaft ins Trudeln gekommen. Das Selbstbewusstsein des ländlichen Raumes auch in kulturellen Dingen hat stark zugenommen. Anton Thuswaldner ist der Autor des Kultur-Abschnitts, in dem all das zur Sprache kommt. Die vermeintlich von langwierigen Entscheidungsfindungen geprägte Ära Katschthaler erweist sich im Rückblick als Schatzgräber-Epoche für die freie Kultur. Aber auch ein Paukenschlag in der Hoch-, ja Höchstkultur: Man holte damals Gerard Mortier als Festspielintendanten nach Salzburg.
„Austria Salzburg wird zu Red Bull Salzburg“ heißt ein Unterkapitel, und auf derselben Doppelseite beginnt das Kapitel über die Kirchen, in den logischerweise die reaktionäre Entwicklung mit der Wahl von Georg Eder zum Erzbischof ein wesentliches Thema ist. Spannende Zeiten rundum.